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Etwas Licht auf das Thema häusliche Gewalt




Im Laufe der Jahre lernte ich in meiner Praxis für Psychotherapie viele Betroffene häuslicher Gewalt kennen. Nicht selten fällt mir dabei die Rolle zu, das Erlebte einzuordnen und als das zu benennen, was es ist: Häusliche Gewalt. Dass vielen nicht klar ist, worum es sich dabei handelt, dünkt mich immer wieder erstaunlich, doch regelrecht schockiert bin ich vor allem darüber, dass viele Amts- und weitere Fachpersonen nur wenig Kenntnis über diesen Abgrund der Menschlichkeit haben und sich in der Folge unpassend im Umgang mit Opfern verhalten.


Die letzen Sekunden


Annabelle, die ich in einem meiner Bücher porträtiere, schilderte mir die folgende Szene aus ihrer mittlerweile geschiedenen Ehe: «Es war später Abend, und mein Mann und ich hatten eine Meinungsverschiedenheit. Wir befanden uns im Schlafzimmer, das gemeinsame Baby schlief friedlich in unserer Mitte. Der Konflikt schaukelte sich hoch, schliesslich bedrohte er mich: ‹Schweig, sag kein Wort mehr, oder ich schlage dich!› Angst durchströmte mich, auch, weil ich ähnlich gelagerte Situationen bereits erlebt hatte, und so gab ich klein bei und verstummte. Doch er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle und schlug mich mit der Faust ins Gesicht. Danach packte er mich am Nacken und drückte mein Gesicht auf die Matratze. Ich bekam keine Luft mehr und ging davon aus, dass das meine letzten Sekunden auf dieser Welt sein würden. Ich wehrte mich nicht, war starr, liess es geschehen. Doch dann liess er von mir ab. Ich schnappte nach Luft, nahm das Baby und flüchtete in ein anderes Zimmer. Für den Rest der Nacht schloss ich uns da ein.»


Schubsen, Bedrohen, Demütigen


Das ist häusliche Gewalt – doch wie definiert sich der Begriff eigentlich? Diese Form der Gewalt bezieht sich auf Gewaltereignisse zwischen Personen, die in einer bestehenden oder beendeten Beziehung leben. Es spielt keine Rolle, ob die Partner verheiratet sind, waren oder nicht. Die häusliche Gewalt passiert in der gemeinsamen oder in der eigenen Wohnung, aber auch in der Öffentlichkeit sowie an anderen Orten. Sie betrifft in der Mehrzahl der Fälle Frauen. Häusliche Gewalt weist viele Formen auf, wozu körperliche Gewalt (schubsen, packen, ohrfeigen, schlagen, würgen, usw.), sexuelle Gewalt (sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, usw.), psychische Gewalt (beschimpfen, bedrohen, etc.) sowie soziale Gewalt (demütigen, bevormunden, kontrollieren, usw.) gehören.


Leider ist Annabelle mit ihren Erlebnissen kein Einzelfall. 2021 beispielsweise wurden in der Schweiz 19 341 Straftaten in diesem Bereich registriert, davon 69 versuchte oder vollendete Tötungsdelikte. Bei dieser Zahl dürfte es sich um eine deutliche Unterschätzung handeln: Eine Studie im Auftrag des Bundesamtes für Justiz hatte ergeben, dass nur etwa 20 Prozent der Fälle von häuslicher Gewalt überhaupt erst zur Anzeige kämen.


Veränderungen als Stressauslöser


Nicht selten setzt häusliche Gewalt dann ein, wenn es zu Veränderungen in der Lebenssituation eines Paares kommt. Doch es sind nicht zwingend negative ­Lebensveränderungen, die häusliche Probleme fördern. Auch positive Lebensveränderungen können Stress auslösen, der sich in Gewalt zeigen kann. Im Beispiel von Annabelle war es die Geburt des gemeinsamen Kindes, ein eigentlich sehr positives Ereignis, das das Paar jedoch derart destabilisiert hatte, sodass der Weg zu häuslicher Gewalt geebnet war.


Häusliche Gewalt erstreckt sich meist über einen längeren Zeitraum und wird in der Regel immer heftiger (Gewaltspirale). Das bedeutet, dass es nach einer Gewalt- zu einer Versöhnungsphase kommt, woraufhin erneut eine (oft schwerere oder intensivere) Gewaltphase folgt, auf die abermals eine Versöhnung folgt – und so weiter. Dieses Muster ist oft schwierig zu durchbrechen, was erklärt, warum von Gewalt betroffene Personen die Gewalt ausübende Person leider meist nicht nach dem ersten Übergriff verlassen. So war es auch bei Annabelle, die die häusliche Gewalt etwa ein Jahr lang ertrug beziehungsweise überlebte.


Sehen und darüber reden


Sind Sie betroffen von häuslicher Gewalt oder kennen Sie jemanden, der es ist oder sein könnte? Sehen Sie nicht weg, handeln Sie. Suchen Sie das Gespräch mit der betroffenen Person, wenden Sie sich an die Opferberatungsstelle des Kantons Graubünden oder direkt an die nächste Polizeidienststelle. Lassen Sie sich dabei nicht entmutigen von Amts- oder sonstigen Fachpersonen, die Ihre Berichte als nichtig abtun wollen.


Auch erschienen:

Davoser Zeitung am 15. Oktober 2024

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