Lesen Sie in diesem Blog was ein Loyalitätskonflikt ist, wie Kinder ihn zu bewältigen versuchen und was Eltern dazu beitragen können, dass das Kind keine Fehlentwicklungen erleidet. Wir starten mit einem Beispiel.
Ein unglücklicher Vater
Der getrennt lebende Vater hatte das 3jährige Kind übers Wochenende und hat es nun der obhutsberechtigten Mutter zurückzubringen. Er sitzt mit ihm im Auto, hält es fest. Er weint. Die Grossmutter mütterlicherseits steht schon draussen, um es entgegenzunehmen. Da die Übergaben oft sehr angespannt waren, erfolgen sie nun stets indirekt über die Grossmutter. Der Vater flüstert dem Kind zu: "Ich werde dich jede Sekunde vermissen. Es geht mir erst wieder gut, wenn ich dich wieder habe. Du machst, dass es mir gut geht. Ohne dich bin ich ganz allein. Du hast eine Rabenmutter. Sie will nicht, dass wir zwei uns sehen können. Sie torpediert unsere Beziehung."
Die Grossmutter klopft von aussen an das Autofenster. Widerwillig löst er sich vom Kind und übergibt es. Das Kind ist verwirrt und klammert sich an die Grossmutter. Im Haus wirft es der Mutter zur Begrüssung einen wütenden Blick zu, will nicht zu ihr, hält die Grossmutter fest. Die Mutter hatte sich auf die Rückkehr des Kindes gefreut, doch muss sie nun den Sonntagabend sowie den ganzen darauffolgenden Montag dazu verwenden, das Kind wieder aufzubauen - immer und immer wieder, denn genau das wiederholt sich zweiwöchentlich. Sie ist freundlich, gibt ihm Zeit. Auch wenn sie den getrennt lebenden Elternteil verachtet, da es zu häuslicher Gewalt gekommen war, wertet sie ihn vor dem Kind nicht ab. Nach 1-2 Tagen ist das Kind besänftigt und begegnet der Mutter wieder liebevoll.
Was bedeutet Loyalitätskonflikt?
Was passiert hier? Aufgrund der Worte und des Verhaltens des Vaters gerät das Kind in einen Konflikt: den Loyalitätskonflikt. Doch was ist damit eigentlich gemeint?
Der Begriff der „Loyalität“ stammt aus dem Französischen und bedeutet gesetzestreu. Da das Kind von den Eltern abhängig ist, muss es sich den "Gesetzen" oder den Vorgaben der Eltern unterwerfen, sich an diese anpassen, um überleben zu können. Sich den Eltern gegenüber loyal zu verhalten, bringt Vorteile, denn dafür bekommt es den notwendigen Schutz, Nahrung und weitere Bedürfnisse werden befriedigt. Solange die Eltern an einem Strick ziehen, eine elterliche Allianz bilden, geht das auf. Es geht auch auf, wenn dies den Eltern kurzweilig nicht gelingt, bspw. in einem elterlichen Streit - das Kind verkraftet eine Ambivalenz, wenn sie von kurzer Dauer ist und die Eltern in der Lage sind, den Streit mit gutem Konfliktmanagement wieder zu lösen.
Wenn nun aber getrennte Eltern unterschiedliche Anforderungen an das Kind stellen, insbesondere wenn dabei Schuldgefühle hervorgerufen werden oder auch die Würde des anderen Elternteils in Mitleidenschaft gezogen wird, so wie im obigen Fallbeispiel, dann entsteht im Kind ein Konflikt zwischen seiner Loyalität dem Vater gegenüber und seiner Loyalität der Mutter gegenüber.
Kleine Kinder haben noch keine Ambivalenzfähigkeit
Bis zum sechsten Lebensjahr gelingt es Kindern nicht, zu erkennen, dass ein- und dieselbe Person sowohl positive wie negative Eigenschaften haben. Es sieht die Welt in schwarz und weiss, es denkt in klaren Kategorien, Grautöne fallen ihm schwer. Sie wissen noch nicht, dass alles zwei Seiten hat, es besitzt noch keine Ambivalenzfähigkeit. Auch ältere Kinder können damit Mühe haben, insbesondere wenn sie emotional belastet sind.
So entsteht bei lange währenden Konflikten der Eltern ein Konflikt im Kind: zu wem soll es denn nun halten? Loyalität dem einen Elternteil gegenüber bedeutet Disloyalität gegenüber dem anderen. In einem solchen Fall verhält sich ein kleines Kind oft so, dass es seine Loyalität ständig wechselt und an dasjenige Elternteil anpasst, bei dem es gerade ist. Das bedeutet: Ist es beim Vater, dann findet es den Vater gut und die Mutter schlecht, und umgekehrt. Schwarz-weiss. Damit einher gehen oft Probleme beim Wechseln des Aufenthaltsorts - meist nur solange, bis der Wechsel erfolgt ist.
Diese Probleme beim Wechseln werden im obigen Beispiel gut dargestellt: das Kind begegnet der Mutter zunächst wütend, bis es wieder ganz bei ihr angekommen ist, dann ist es ihr gegenüber wieder sanfter.
Jedoch ist anzumerken, dass es durchaus auch Fälle gibt, in denen es dem Kind bei einem Elternteil nicht gut geht und es dies bei Wechseln zu diesem Elternteil kund tut. Grundsätzlich sollten in einen solchen Fall Fachpersonen miteinbezogen werden, die helfen, eine Lösung im Sinne aller zu finden.
Einseitige Verbündung und Verhaltensauffälligkeiten als Folgen
Kinder in Loyalitätskonflikten zeigen oftmals zwei Lösungsstrategien, um damit umzugehen. Entweder kommt es zur einseitigen Verbündung mit dem bevorzugten Elternteil. Dadurch wird der Konflikt aufgelöst, denn das Kind bezieht klare Stellung hinsichtlich Loyalität. Es stellt sich klar auf die Seite des einen Elternteils, meist dasjenige, zu dem es eine engere Bindung hat. Notabene wirkt sich dies ungünstig auf die Beziehung zum benachteiligten Elternteil aus. Das Kind jedoch benötigt eine tragfähige Beziehung zu beiden Elternteilen, um sich zu orientieren und optimal zu entwickeln. Oder das Kind löst den Loyalitätskonflikt nicht mittels einseitiger Verbündung auf und bleibt im Konflikt stecken. Dabei stellen sich häufig Verhaltensauffälligkeiten ein. Das heisst, das Kind zeigt ein seinem Wohl abträgliches Verhalten wie Hyperaktivität, die Schulnoten gehen nach unten, soziale Probleme, depressive Verstimmungen oder eine erhöhte Aggressivität, teils auch den Eltern gegenüber.
Die Strategien zeigen sich oft beim schon etwas älteren Kind, bspw. ab 8 Jahren - aber auch früher oder später ist dies möglich. Ab dem Alter von 8 Jahren verfügen die Kinder über eine moralische und psychische Entwicklung, die es erlaubt, den Loyalitätsanforderungen der Eltern zu entsprechen, gleichzeitig sind ihre Urteile noch unreif, da ihre kognitive Entwicklung zum abstrakten Denken noch nicht abgeschlossen ist.
Was können Eltern tun?
Eltern beeinflussen massgebend den Loyalitätskonflikt ihrer Kinder. In der Regel hängt dieser vom Ausmass der Streitigkeiten der Eltern ab sowie davon, in welchem Ausmass die Eltern Loyalität einfordern. Wichtig ist, dass die Kinder möglichst nicht in den Streit der Eltern miteinbezogen werden. Das obige, mir aus meiner Praxis bekannte Beispiel vom getrennt lebenden Vater stellt dar, was nicht passieren darf. Selbstverständlich darf dem Kind - in kindsgerechter Sprache - mitgeteilt werden, dass die Eltern sich nicht mehr lieben. Dies, solange dem Kind auch mitgeteilt wird, dass es dennoch beide Elternteile lieben darf. Nur weil Mutter und Vater sich nicht mehr mögen, bedeutet das nicht, dass das Kind nicht beide lieben darf. Situationen, in denen sich das Kind zwischen dem einen und dem anderen Elternteil entscheiden muss, sind zu vermeiden. Auch soll der Kontakt zum getrenntlebenden Elternteil gefördert werden. Oft helfen in Übergabesituationen Worte wie: "Du darfst zum Vater gehen. Ich erlaube dir, zu gehen. Ich liebe dich, auch wenn du gehst."
Umso älter Kinder werden, umso eher wird es ihnen gelingen, die Ambivalenz, die sich daraus zweifelsfrei ergibt, auszuhalten. Gelingt dies, dann fördert das oftmals die Ambivalenzfähigkeit des zukünftigen Erwachsenen, sodass dieser zukünftige Ambivalenzen besser ertragen und aushalten kann. In anderen Worten: wenn die Eltern dem Kind bei der Überwindung dieser Ambivalenzen helfen, dann tragen sie im Optimalfall dazu bei, im Kind eine diesbezügliche Fähigkeit aufzubauen.
Zurück zum unglücklichen Vater
Der Vater ist unzufrieden mit seinem Leben. Er wollte nie ein getrennt lebender Vater sein, der sein Kind nur zweiwöchentlich sehen darf. Doch genau das ist eingetreten. Er fühlt sich einsam, hat sich zurückgezogen, trifft sich kaum mit anderen. Der einzige Lichtblick seines Lebens sind die zweiwöchentlich stattfindenden Wochenenden mit seinem Kind. Er hängt sein Glück an die Anwesenheit des Kindes und signalisiert das diesem deutlich. Er wertet zudem die Mutter massiv ab. Die Mutter versucht dies auszugleichen, begegnet dem Kind freundlich und mit Verständnis. Trotzdem ist das Kind einem hohen Risiko für Fehlentwicklungen ausgesetzt.
Was braucht es? Hier könnte eine Fachperson ins Spiel kommen. Auf der Seite des Vaters ist eine Psychotherapie zu empfehlen. In einer solchen kann er lernen, sein Glück wieder in sich selbst zu verankern und nicht in einem kleinen Kind, das von dieser Verantwortung erdrückt wird. Mitunter kann dies Schuldgefühle im Kind auslösen, was keineswegs förderlich für die kindliche Entwicklung ist. Weiter ist es unbedingt notwendig, dass er lernt, die Mutter nicht weiter schlecht zu reden. So belastet er das Kind mit dem Elternkonflikt, der nicht auf die Ebene des Kindes hingehört. Auf der Seite der Mutter könnte eine psychologische Beratung ebenfalls Sinn ergeben, in der sie weiter lernt, wie sie dem drohenden Loyalitätskonflikt entgegen wirken kann. Auf der Seite des Kindes ist es denkbar, dass eine aussenstehende Fachperson dabei helfen kann, ohne Fehlentwicklungen aus dem Loyalitätskonflikt auszusteigen.
Müssen sich die Elternteile zwingend gut verstehen?
Nach einer Trennung ist es nicht notwendig, auf Teufel komm raus mit dem ehemaligen Partner:in gut auszukommen. Insbesondere wenn gravierende Dinge wie häusliche Gewalt vorgefallen sind, dann darf sich das Opfer selbst schützen. Jeder Mensch hat Grenzen und das Recht, diese zu wahren. Doch die Eltern haben in der Lage zu sein, die Beziehung vom Kind zum anderen Elternteil zu fördern, sofern zumutbar. Darum geht es.
Lesetipps
Krammer, S. (2021). Alleinerziehend. Psychologischer Ratgeber für Single Parents. Springer.
Largo, R. H. & Czernin, M. (2015) Glückliche Scheidungskinder: Was Kinder nach der Trennung brauchen. Piper.
Autorin
Dr. phil. Sandy Krammer, LL.M.
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