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Victim Blaming

Kürzlich war in einer Tageszeitung eine Geschichte über ein Gerichtsverfahren zu lesen, bei dem es zu «Victim Blaming» kam. Damit ist eine Umkehrung der Schuldfrage gemeint, will heissen: Dem Opfer wird zumindest eine Mittäterschaft unterstellt, und dass es durch sein Verhalten die Tat herausgefordert hätte. Was steckt dahinter?



Im erwähnten Gerichtsverfahren beschuldigte eine Frau ihren früheren Arbeitgeber, sie jahrelang sexuell belästigt zu haben. Es geschah, was in solchen Fällen meistens passiert: Sie erhebt Vorwürfe, er bestreitet diese, und es stand Aussage gegen Aussage. Doch anstatt die Position der Klägerin zu unterstützen – immerhin war das Verfahren auf ihre Anzeige hin eröffnet worden – habe der Staatsanwalt plötzlich die Seiten gewechselt, wird berichtet. Vor Gericht habe er die sexuelle Belästigung bezweifelt und sogar vorgeschlagen, den Angeklagten freizusprechen. Ohne die genauen Fakten zu kennen, könnte es sich hier um einen Fall von «Victim Blaming» handeln.


Übertragung auf das Opfer


Beim «Victim Blaming» wird die Schuld für das schlechte Verhalten des Täters, die eigentlich einzig beim Täter liegt, auf das Opfer übertragen. Psychologisch betrachtet, kann dabei von einer doppelten Opferwerdung gesprochen werden: Eine Person, die bereits Opfer eines Übergriffs irgendwelcher Art geworden ist, erleidet durch die falsche Übertragung der Verantwortung – egal ob teilweise oder ganz – einen zusätzlichen Übergriff. Oder um ein anschauliches Bild zu malen: Die Person liegt bereits am Boden, und es wird noch auf sie eingetreten.


«Victim Blaming» wird nicht selten im Zusammenhang mit sexuellen Delikten beobachtet. Dabei wird dem Opfer vorgeworfen, dass es den Übergriff zum Beispiel durch die Art der Kleidung gefördert haben soll. So soll auch im beschriebenen Fall die Klägerin unter anderem durch das Tragen von Leggins die Verhaltensweisen des Beklagten provoziert haben. Selbstverständlich jedoch hat jede Person auf dieser Welt das Recht, sexuell unbelästigt zu bleiben, egal, wie sie, zum Beispiel, gekleidet ist.


Dass ein Täter das Opfer beschuldigt, ist naheliegend und lässt sich in der Regel so erklären, dass er damit versucht, die eigenen Taten zu rechtfertigen sowie strafrechtlicher Verfolgung zu entgehen. Das Abstreiten der eigenen Verantwortung und deren Übertragung auf das Opfer ist quasi der einfachere Weg, als die Verantwortung vollumfänglich bei sich selbst zu suchen und einzugestehen, verwerfliche Dinge getan zu haben.


Warum aber kommt es seitens Drittpersonen zu «Victim Blaming»? Es gibt mehrere Erklärungsansätze. Einer davon ist: Durch die Übertragung von Schuld auf das Opfer erfolgt eine Distanzierung zu eben diesem. Das eigene Gefühl von Sicherheit steigt wieder, und der fundamentale Glaube an eine gerechte Welt wird bewahrt. Denn wenn ich (oder meine Liebsten) keine hautengen Leggins trage und mich so und so verhalte, dann passiert mir (oder meinen Liebsten) dieser Horror nicht. Ein anderer Ansatz kommt daher, dass man im Nachhinein immer schlauer ist. Nun, da etwas Schlimmes passiert ist, geht man davon aus, dass man es hätte voraussehen müssen. Doch die Informationen, die im Nachhinein da sind, waren es im Vorhinein noch nicht – mal ganz abgesehen davon, dass weiterhin das Opfer keine Schuld trifft. Nicht selten bedeutet «Victim Blaming» für das Opfer eine noch grössere psychische Belastung, als es durch die unmittelbare Opferwerdung ohnehin schon erfährt. Als Folge kommt es dabei aus psychologischer Sicht nicht selten zu depressiven oder Traumafolge-Symptomen. Fast noch schlimmer dünkt allerdings oftmals das Abhandenkommen des Gefühls von Vertrauen in die Gesellschaft, das Aufgehobensein in der Gemeinschaft, und das Erleben von Sicherheit und Gerechtigkeit. In vielen Fällen ist es sogar so, dass erst die offizielle Feststellung durch ein Gericht, dass dem Opfer Unrecht getan wurde, es diesem ermöglicht, ein Unrecht zu verarbeiten und hinter sich zu lassen. Oft ist das wichtiger als die tatsächlich verhängte Strafe.


Im eingangs erwähnten Gerichtsfall habe sich der Richter gegen die gemeinsame Forderung von Verteidigung und Staatsanwaltschaft gestellt, wird weiter berichtet. Er habe den Beklagten verurteilt, und damit die für das Opfer so wichtige Feststellung der Unrechtmässigkeit vorgenommen. Dennoch ist die Sache noch nicht ausgestanden: Der Beklagte legte gegen das Urteil Berufung ein. Ergo gilt nun weiterhin die Unschuldsvermutung für diesen.


Auch erschienen:


Davoser Zeitung am 02.12.2024


Autorin:


Dr. phil. Sandy Krammer, LL.M.

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