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Hoch hinaus: Wie die Flugangst verfliegt




2000 Meter über Meer zerquetscht mir meine Flugbegleitung meine Hände mit ihrer Linken, während ihre Rechte meine Oberschenkel massakriert. Mich werden später überall da blaue Flecken verunstalten, wo ihre Bärenkräfte sich an mir vergangen haben, dennoch tue ich es gerne, denn: Meine Flugangst-Patientin sitzt neben mir in einer zierlichen Piper und wir kurven eine Stunde lang durch die Luft. Unsere nicht ganz unturbulente Flugroute führt uns über den Zürichsee, linkerhand thronen die Aubrigs, vorbei am kleinen und grossen Mythen, weiter zum Vierwaldstättersee, hoch zum Klausenpass, über die Linthebene, und schliesslich zurück zum Flughafen in Lachen. Ein herrlicher Sonntagsaus»Flug»! Und wie im Lied von Reinhard Mey mit Titel «Über den Wolken» geht es uns ebenfalls ein Stück weit um grenzenlose Freiheit, wonach die Psychotherapie von Angststörungen trachtet.


Doch beginnen wir einige Monate vorher. Meine Patientin, eine sympathische Frau von knapp 50 Jahren, suchte mich mitunter wegen einer Angststörung auf, die sie in ihrer Lebensführung mehr und mehr eingeschränkt hat. Sie fürchtete sich davor, falsche Entscheidungen zu treffen, auf steilen Wegen unterwegs zu sein, und nebst weiteren Dingen auch vorm Fliegen. Die letztgenannte Angst hielt sie davon ab, einem Lebenssinn nachzugehen, nämlich zu reisen. Der grösste Traum, die Malediven, war dadurch nicht nur im übertragenen, sondern auch im sprichwörtlichen Sinn in weiter, weiter Ferne. Aus Angst.


Aus Angst? Jein, denn auch dieses Gefühl – wie jedes andere – ist letzten Endes nur eine Information über ein Bedürfnis, in diesem Fall dem nach Schutz und Sicherheit. Mäuse, denen operativ der Sitz der Angst im Gehirn entfernt worden war, liefen den dafür sehr dankbaren Kätzchen fortan direkt in deren hungrige Mäuler. Schlaraffenland für die Katzen, fatal für die Nager. Warum taten sie das? Ohne Angst fehlte den Mäusen ihr Frühwarnsystem, das sie, ähnlich den Warnleuchten in Autos, vor einer drohenden Gefahr gewarnt und Schutz- und Sicherheitsverhalten eingeleitet hätte. Angst zu haben ist sinnvoll, wir wollen sie nicht nicht haben. Entsprechend ist meist nicht die Angst das Problem, weswegen sich jemand in Psychotherapie begibt, sondern wenn es ein Problem in diesem Zusammenhang gibt, dann geht es um den Umgang mit diesem Gefühl. Dabei sind zweierlei Ängste zu unterscheiden: Steht zum Beispiel jemand ungesichert auf einer zugigen Bergspitze, von welcher rundherum steile Wände in den Abgrund fallen, ist die Angst rational, denn Leib und Leben sind in Gefahr. Überkommt hingegen jemand beim Anblick einer harmlosen Babyspinne eine Panikattacke, dann liegt keine eigentliche Gefährdungssituation vor – das ist irrationale Angst. Sich vor der Nutzung eines Flugzeuges zu fürchten, fällt in letztgenannte Kategorie, gilt dieses doch weiterhin als sicherstes Verkehrsmittel; die Wahrscheinlichkeit, mit einem solchen abzustürzen, liegt gemäss «Planet Wissen» bei 0.000002 Prozent.


Diese Unterscheidung ist wichtig, denn rationale Ängste erfordern ein anderes Verhalten als irrationale. Ist die Angst rational, dann braucht es Schutz und Sicherheit, zum Beispiel könnte der vorhin erwähnte Bergsteiger schleunigst in ein Seil eingebunden werden. Sprich: Die Gefahrensituation ist zu verlassen. Ist die Angst hingegen irrational, ist das Gegenteil zu tun, man spricht von paradoxem Verhalten: Die vermeintliche Gefahrensituation ist keinesfalls zu verlassen, sondern aufzusuchen. Was mich zurück auf 2000 Meter über Meer bringt: Ungefähr bis auf diese Höhe liess der Pilot unsere Piper steigen, in der meine Flugangstpatientin und ich zu Gast waren, ehe er sie bei unserer herrlich-sanften Landung wieder auf etwa 400 Meter über Meer sinken liess.


Die enorme Anspannung, die meine Patientin insbesondere während des Fluges, aber auch in den Stunden und Tagen davor ereilt hatte, fällt allmählich sichtbar von ihr ab – sie hat es überstanden. In vielen Stunden hatten wir diesen Flug vorbereitet. Nun, den festen Boden wieder unter den wackligen Füssen, strahlt sie, und meint wenig später, dass sie sich nun trauen würde, gleich nochmals in dasselbe Flugzeug zu steigen und eine weitere Runde zu drehen. Diese Einstellung ist förderlich, denn mit diesem einen Flug ist die Angst noch nicht überstanden, es gilt, weiter zu üben, neue und korrigierende Erfahrungen zu sammeln, zu erleben, dass die vermeintliche Gefahr rational betrachtet keine ist.


Autorin


Dr. phil. Sandy Krammer, LL.M.


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Davoser Zeitung vom 7. Juli 2023

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