Nein, in diesem Blog geht es nicht um ein sexuelles Thema, auch wenn hierfür nur ein Buchstabendreher vonnöten wäre. Und doch verbindet der psychologische Fachbegriff «Musturbation» zumindest etwas mit Masturbation, nämlich der Umstand, dass hinter beiden ein Trieb steht. Im einen Fall der Sexualtrieb, im anderen Fall der Trieb beziehungsweise das Streben nach Perfektion.
Der verschroben anmutende Begriff wurde von Dr. Albert Ellis geprägt, ein mittlerweile verstorbener Psychologe und Psychotherapeut aus dem US-Amerikanischen Raum. Ellis gilt als Pionier im Bereich der Psychotherapie und entwickelte eine eigene psychotherapeutische Vorgehensweise, deren Basis mitunter beim griechischen Philosophen Epiktet zu finden ist. Dieser soll gesagt haben: «Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Vorstellung von den Dingen.» Ich illustriere in einem Beispiel, wie das gemeint ist. Stellen Sie sich vor, Sie bereiten sich eine Tasse Tee zu. Da kommt eine andere Person und wirft die Tasse zu Boden, das gute Stück zerschmettert in tausend Kleinstteile, der Boden ist geflutet. Wie fühlen Sie sich? Verärgert? Wütend? Traurig? Verängstigt? Enttäuscht? Glücklich? Gelassen? Würden wir 100 Personen zur Gefühlslage in ebendiesem Moment befragen, erhielten wir kaum nur eine Antwort, sondern viele verschiedene Antworten. Warum? Wären unsere Gefühle eine direkte Folge der Situation, würden wir alle in vergleichbaren Situationen vergleichbar fühlen. Tun wir aber nicht – der eine fühlt und verhält sich so, die andere so. Der Grund für die verschiedenen Reaktionen liegt in der individuellen Bewertung des Geschehnisses. Denn wir reagieren nicht auf das, was passiert ist, hier auf die Scherben am Boden, sondern auf die Bewertung dessen, was geschehen ist, sprich auf die persönliche Bedeutung der Scherben. Wer zum Beispiel denkt: «Mist, ich hatte mich so auf diesen Tee gefreut, das ist unfair! Das Universum ist gegen mich!» manövriert sich wahrscheinlich in Ärger rein. Oder wer der Meinung ist: «Das hat die Person absichtlich getan, so ein Schuft!», lässt in sich das Gefühl von Wut entstehen. Oder wer findet: «Bin ich froh, das war der letzte Beutel dieses abscheulichen Tees, den meine Familie mich zwingt, der Gesundheit wegen zu trinken.» denkt sich dadurch glücklich und zufrieden. Für gewöhnlich erlernen wir die Art und Weise, wie wir verschiedene Situationen bewerten, in unserer Kindheit und unserer Jugend, manchmal später insbesondere bei einschneidenden Lebensereignissen. So entwickeln wir im Laufe der Zeit verschiedene Bewertungsmuster, die uns meist wenig bewusst sind. Von diesen sind manche förderlicher für unseren Lebensweg, manche davon sabotieren ihn. Und nun kehren wir zum Titelthema zurück. Es gibt mehrere Möglichkeiten, ungünstig zu denken, und zu musturbieren ist eine davon. Eine Musturbation ist ein spezifisches Bewertungsmuster, das die amerikanische psychologische Gesellschaft (APA) wie folgt definiert: «Die Überzeugung einiger Menschen, dass sie unbedingt die oft perfektionistischen Ziele erfüllen müssen, um Erfolg, Anerkennung oder Komfort zu erreichen.» Oder in anderen Worten: Wer musturbiert, will immer alles richtig machen, strebt immer nach Bestnoten, «muss» immer fehlerfrei und perfekt sein. Diese Personen neigen zu absoluten Forderungen hinsichtlich der eigenen Leistungen, ihnen ist Perfektion noch nicht gut genug. Natürlich ist es keineswegs verkehrt, gute Leistungen anzustreben. Die Frage ist, ob wir es mit dem Anspruch tun, zwar unser Bestes zu geben, doch wenn es nicht gelingt, ist es kein Weltuntergang, oder ob wir fordern, immer alles schaffen zu müssen, und gelingt es nicht, dann geht (gefühlt) die Welt eben doch unter. Wer auf musturbatorische Weise sich, die Mitmenschen und die Welt an sich bewertet, setzt sich selbst sowie die anderen unter Druck, da niemand jemals alles erreichen kann, was man vermeintlich muss. Dieser irrationale Denkstil lässt eine Kluft zwischen der Realität und den eigenen Ansprüchen entstehen, wodurch die Wahrscheinlichkeit, sich deprimiert oder sonst wie unwohl zu fühlen, erhöht wird, da reihenweise Misserfolge vorprogrammiert sind. Wie ich denke, ist meine Entscheidung. Die Macht der Gedanken ist meine Macht, ich nutze sie so, wie ich es will. Ich entscheide, ob ich musturbiere und dadurch etwas anstrebe, was unerreichbar ist, oder ob ich die irrationale, musturbatorische Forderung nach Perfektionismus aufgebe. Auch erschienen Davoser Zeitung vom Freitag 9. Juni 2023, Seite 25. Lesetipps Ellis, A. (2007). Training der Gefühle. Autorin Dr. phil. Sandy Krammer, LL.M.