In aller Munde und doch nicht in aller Psyche: Depressionen. Aber was bedeutet das eigentlich? Wann besteht eine depressive Episode? Wieviele sind betroffen? Das und mehr schauen wir uns in diesem Beitrag an.
Ein Beispiel aus meiner Praxis
Zunächst veranschauliche ich, um was es geht. Stellen Sie sich Herrn A. vor. Er arbeitete in leitender Stellung weit über 100%. Abends kehrte er heim zu einer unglücklichen Ehefrau, die sich weitgehend alleine um die beiden Söhne kümmerte. Sie stammt aus einem anderen Land und fühlt sich hier einsam, sie vermisst ihre Verwandten. Immer weniger unternehmen sie gemeinsam, Herr A. verbrachte seine spärliche Freizeit immer häufiger alleine. Dann starb der Familienhund, der Herrn A. viele Jahre lang treu begleitet hatte. Herr A. zog sich immer mehr zurück. Früher traf er sich mit Freunden, nun nicht mehr. Er ging keinem Sport mehr nach, schaute viel fern. Es gab in seinem Leben nur noch wenig, das ihm Freude bereitete. Er interessierte sich zunehmend für immer weniger. Obwohl er kaum was tat, fühlte er sich dauernd müde. Er war erschöpft und schlief schlecht. Es fiel ihm immer schwerer, morgens aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Bis es ihm eines Tages tatsächlich nicht mehr gelang, das Haus zu verlassen. Er blieb einfach auf der Treppe vor seinem Haus sitzen. Sein Hausarzt stellte eine depressive Episode fest und verschrieb ihm Antidepressiva. Leider verpasste er es, auch eine Psychotherapie zu verordnen. Die Medikamente halfen kaum. Nach drei Monaten, in denen er krankgeschrieben war und darauf wartete, dass die Medikamente wirkten, verliess ihn seine Frau und nahm die beiden Söhne mit. Sie kehrte in ihr Heimatland zurück. Nach einem misslungenen Selbstmordversuch wurde er in eine Klinik überwiesen und gelangte zur ambulanten psychotherapeutischen Nachsorge an mich.
Die Kriterien der Depression
Das Beispiel von Herrn A. veranschaulicht eine depressive Episode. Damit eine solche psychische Störung diagnostiziert werden kann, müssen bestimmte Kriterien in bestimmter Anzahl erfüllt sein. Die Weltgesundheitsorganisation definiert die depressive Episode mittels Haupt- und einer Reihe von Nebenkriterien. Je nachdem, wieviele davon erfüllt werden, liegt keine Depression vor, oder aber eine leichte, mittlere oder schwere.
Depressiv ist nicht Depression
Schauen wir uns zunächst die Hauptkriterien an. Dazu gehören Freud- und Interessenverminderung, Antriebsmangel sowie eine gedrückte, depressive Stimmung. Oder in anderen Worten: Betroffene erfreuen sich kaum noch an etwas, wirken traurig, lassen die Schultern hängen, wirken teilnahmslos, kommen nicht in die Gänge, sind kaum belastbar, ermüden rasch. Die Welt ist für Betroffene dunkel, düster, schwarz. Wie Sie sehen, leidet nicht jeder, der depressiv wirkt, an einer Depression.
Zu den Nebenkriterien zählen verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, Gedächtnisprobleme, Schlafstörungen, sozialer Rückzug, vermindertes Selbstwertgefühl, Schuldgefühle, negative Zukunftsperspektive, Appetitveränderung, Suizidgedanken oder -versuch. Oder anders formuliert: Betroffene lassen sich leicht ablenken, sind selten bei der Sache, sehen Vieles negativ, ziehen sich von ihrem Umfeld zurück, fühlen sich schlecht, haben von sich selbst ein negatives Bild, essen weniger oder mehr als üblich und denken ans Sterben, manche versuchen, sich zu töten.
Machen Sie einen Selbsttest
Wenn von den Haupt- mindestens zwei und von den Nebenkriterien ebenfalls mindestens zwei während mindestens zwei Wochen zur meisten Zeit erfüllt sind, dann liegt der Verdacht nahe, dass eine depressive Episode vorliegt. Für ein erstes Screening können Sie einen online Selbsttest durchführen. Hierfür bietet sich der PHQ 9 an, den Sie beispielsweise hier finden. Ein Test ersetzt niemals das Expertenurteil. Begeben Sie sich für eine Diagnose zu einem Psychotherapeuten. Nur der Fachmann oder die Fachfrau darf eine Diagnose stellen. Ein positives Resultat in einem Screening ist keine Diagnosestellung.
Diagnose Depression - und was nun?
Das Screening wies einen Verdacht für eine Depression aus und der Psychotherapeut hat den Verdacht vielleicht schon bestätigt? Dann habe ich gute sowie schlechte Nachrichten für Sie. Zunächst die schlechte. Sie sind nun psychisch krank. Doch damit sind Sie in guter Gesellschaft, erkrankt gemäss grosser Studien doch immerhin etwa jede vierte bis fünfte Person im Laufe ihres Lebens mindestens einmal an einer Depression. Und etwa jede dritte bis vierte Person erkrankt an irgendeiner psychischen Störung. Akzeptieren Sie, was ist, schwimmen Sie nicht gegen den Strom, kein unnötiger Kräfteverschleiss. Es ist, wie es ist.
Und nun die gute Nachricht: es muss nicht so bleiben, wie es ist. Depressionen lassen sich oft gut therapieren. Wichtig ist, dass Sie sich nicht oder nicht allein auf Antidepressiva verlassen. Diese sind wie Krücken nach einem Beinbruch. Sie helfen beim Gehen, sie heilen das Bein aber nicht. Konsultieren Sie einen Psychotherapeuten. Eine Psychotherapie kann helfen, aus dem Loch herauszukommen. Sie hilft, negative Denkmuster zu erkennen und den Umgang mit Gefühlen zu verbessern. Auch kann Psychotherapie weiteren Episoden vorbeugen. Denn das Risiko erneut an einer depressiven Episode zu erkranken, erhöht sich mit jeder Episode. Manchmal ergibt es dabei Sinn, an vergangenen Ereignissen zu arbeiten, die belasten. Apropos Sinn.
Persönlicher Sinn
Depressionen ergeben meist Sinn. In aller Regel fallen sie nicht aus heiterem Himmel, sondern es gibt Vorbedingungen. Irgendetwas war nicht gut und die Depression weist nun wie ein Neonpfeil auf das Ungute hin. Die Depression bietet - so betrachtet - eine Chance, das eigene Leben zu optimieren. Sodass es nachher besser ist, als es vorher gewesen war. Und wo der Schuh drückt, ist oftmals sehr individuell. Die Depression ergibt meist einen persönlichen Sinn.
Wie ging es weiter mit Herrn A.?
Bis Herr A. in professionelle Betreuung gekommen war, war viel Zeit verstrichen. Wertvolle Zeit, die psychotherapeutische hätte genutzt werden können. Ich betreute ihn über ein Jahr ambulant und in dieser Zeit arbeiteten wir zum einen an der Strukturierung seines Alltags und an der Rückgewinnung von Quellen der Freude. Zum anderen widmeten wir uns seiner gescheiterten Ehe und den Gefühlen, die dadurch ausgelöst wurden. Schliesslich warfen wir auch einen Blick zurück. Wir erkundeten, inwiefern seine Herkunftsfamilie eine Rolle spielte in Bezug auf die heutigen Schwierigkeiten. Als wir die Psychotherapie beendeten, war er gut in seinem neuen Leben angekommen. Er ging zwei neuen Sportarten nach, traf sich hie und da mit alten Freunden und arbeitete zunächst noch geschützt und später regulär an einer neuen, herausfordernden Arbeitsstelle. Seine Kinder besuchte er regelmässig, sie waren im neuen Land gut angekommen. Die Ehe ist mittlerweile rechtskräftig geschieden. Was meinen Sie, welchen Sinn ergab die Depression bei Herrn A.?
Lesetipps
Weltgesundheitsorganisation. Internationale Klassifikation psychischer Störungen (10. Aufl.). Hogrefe Verlag.
Wittchen, H.-U. & Jacobi, F. (2005). Size and burden of mental disorders in Europe—a critical review and appraisal of 27 studies. European Neuropsychopharmacology, 15(4), 357-376.
Autorin
Dr. phil. Sandy Krammer, LL.M.
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