Dieser Beitrag widmet sich dem Stellenwert von Traditionen, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichtsbücher schlängeln und dem Menschen Halt geben.

Dezember 1914. Gerade etwas mehr als 100 Jahre sind es her, dass in der Normandie die Soldaten in ihren Gräben liegen, manche mehr tot als lebendig. Die Frontlinie geht so viel vor, wie sie zurück geht. Bis zum Ende des Krieges ein paar Jahre später wird kaum Landgewinn für eine der Seiten verzeichnet werden. Der Lack des Krieges blättert ab, die Soldaten desillusionieren, sie realisieren den Schrecken, in den sie manövriert sind. Doch dann kommt es just an Weihnachten zu einem Lichtblick der Menschlichkeit: es wird der Weihnachtsfrieden des ersten Weltkrieges ausgerufen. Dabei handelt es sich um eine inoffizielle Waffenruhe und zwar – so bizarr wie wahr – um gemeinsam Weihnachten zu feiern. Nicht grossflächig, aber doch in einem Ausmass, das ein Zeichen setzt und eine viele Jahre überdauernde Erinnerung schafft, werden am Weihnachtstag Kerzen und Tannenbäume entlang der Schützengräben aufgestellt – und beinahe brüderlich feiern die Feinde Weihnachten! Ein gemeinsamer Gottesdienst wird abgehalten, wobei die Deutschen auf der einen, die Briten auf der anderen Seite stehen. Mancherorts wird Tabak, Bier und Pudding ausgetauscht. Auch ein weihnachtliches Fussballspiel findet statt, so die Zeugnisse dieses wunderlichen Ereignisses, bei dem gemäss einer nicht mehr überprüfbaren Quelle die Deutschen 3:2 gewonnen haben sollen. Dieses einmalige Weihnachtsfest inmitten des ersten Weltkrieges geht als Funken in der Dunkelheit in die Geschichte des ersten Weltkrieges ein, der ein Jahr später nicht mehr aufgeflammt ist. Denn eine Wiederholung dieses Waffenstillstandes zu Weihnachten findet trotz der Versuche einiger Soldaten nicht mehr statt, dieses Signal des Menschseins ist wieder erloschen.
Wie ist das zu erklären? Es gibt eine Vielzahl an Linsen, durch welche dieses Ereignis betrachtet und ansatzweise Licht darauf geworfen werden kann. Eine dieser Linsen lässt den Blick frei auf den Stellenwert von Traditionen.
Eine Tradition ist etwas, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Etwas, das unsere Vorfahren schon gemacht haben, ebenso deren Vor- und deren Vorfahren. Dazu gehören mitunter Fertigkeiten, Bräuche, Überzeugungen oder auch Wissen. Eine Tradition schlängelt sich wie ein roter Faden durch die Geschichtsbücher. So gesehen sind Traditionen fast schon Anachronismen, das heisst, sie sind ein Stück weit zeitunabhängig und leisten dem ewigen Ticken der Uhr Widerstand.
Und in einem Leben, in dem die Uhren ticken und nur die andauernde Veränderung konstant ist – wie der griechische Philosoph Heraklit schon wusste – tut es gut, einem immergleichen Faden folgen zu können. Gewisse Dinge bleiben über eine lange Strecke gleich, auch wenn sich rundherum stetig alles verändert. Das tut dem Gewohnheitstier Mensch gut und fördert sein Wohlbefinden. Durch die Ausübung von Traditionen gewinnt der Mensch an Sicherheit und Stabilität. Traditionen stiften Ordnung, schaffen Besinnung, Begegnung und Beziehung. Sie sind ein Stück Kultur. Und Traditionen verleihen dem Jahr einen vorhersehbaren Ablauf – unter anderem geht es vom Dreikönigstag zur Fasnacht, Ostern, Pfingsten, 1. August-Feiertag, Allerheiligen, Adventssonntage und eben: zu Weihnachten. Das Weihnachtsfest ist eine von vielen Traditionen, die uns durch unser Leben hindurch begleiten.
Übrigens gab es weitere Lichtblicke der Humanität, die mit demjenigen vergleichbar sind, der 1914 an Weihnachten in der Normandie für einen kurzen Augenblick die lange Dunkelheit einiger Soldaten vertrieben hat. Auch in anderen Kriegen kam es zu Zeugnissen von zwischenmenschlichen Brücken und zwar mitunter im Zuge gemeinsam ausgeübter Traditionen. Hier überwanden ebendiese die Klüfte zwischen Feinden, sodass Waffen für einen Moment verstummten und Ruhe einkehrte, sodass es möglich war, den leisen Gedanken zu hören, dass uns alle doch eigentlich mehr eint als trennt.
Und nun sind wir erneut vor den weihnachtlichen Toren angelangt, unsere Tradition des Weihnachtsfests steht unmittelbar bevor. In einer Welt, in der Kriege herrschen, in der es eine Strommangellage gibt, in der eine Corona Pandemie gewütet hat und es noch immer tut. In einer Welt, die Vielen so Vieles abverlangt, halten wir uns fest an dem, was schon lange war und noch lange sein wird, an einer Tradition, die uns wie ein Band über die Zeit hinweg und miteinander verbindet. Dazu ist eine Tradition gut.
Ich wünsche Ihnen eine besinnliche Weihnachtszeit und kommen Sie gut im neuen Jahr an.
Autorin
Dr. phil. Sandy Krammer, LL.M.
Hinweis
Auch erschienen in der Davoser Zeitung von Freitag, 23. Dezember 2022, Nr. 102, 141. Jahrgang, Seite 13.