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Kinder in der falschen Rolle

Die Parentifizierung hat innerhalb der systemischen Psychologie einen hohen Stellenwert. Tatsächlich begegne ich Betroffenen regelmässig in meiner Praxis. Was es ist, warum es schädlich sein und was dagegen getan werden kann, zeigt dieser Blog auf.



Was bedeutet Parentifizierung?


Versuchen wir uns zuerst an einer Begriffsklärung. Dieses aus dem Lateinischen stammende Wort bedeutet in der wörtlichen Übersetzung "Elternmachung" und in der ihm angedachten Bedeutung "Rollenumkehr". Parentifizierte Kinder üben in der Familienstruktur eine Rolle aus, die nicht die ihre sein sollte. Es ist eine für das Kind falsche Rolle, die es überfordern kann und dem Kind oft nicht gerecht wird. Überfordernde und nicht kindsgerechte Rollen im Familiengefüge können schädlich für die Entwicklung des Kindes sein. Parentifizierung erhöht das Risiko für aktuelle oder auch für spätere, erst im Erwachsenenalter auftretende psychische Störungen. Nur in wenigen Fällen kommt es zu positiven Effekten. Weil das Konzept der Parentifizierung kompliziert ist, veranschauliche ich es Ihnen als Nächstes anhand von zwei Beispielen.


Beispiele für Parentifizierung


Die Mutter hat sich von ihrem Ehemann getrennt. Die drei Kinder im Teenage-Alter leben bei ihr. Schon immer, aber insbesondere seit der Trennung ist die älteste Tochter ihre engste Vertraute. Sie spricht mit ihr über das Fremdgehen des Vaters. Über die ehelichen Schwierigkeiten. Sie schüttet der ältesten Tochter das Herz aus, weint sich bei ihr aus. Immer wieder. Mittlerweile sind seit der Trennung fünf Jahre vergangen und noch immer ist die älteste Tochter der erkorene Seelenklempner der Mutter. Zu einem Psychologen möchte die Mutter nicht gehen, davon hält sie nichts. Mehr und mehr zieht sich die Tochter von ihrem sozialen Umfeld zurück, verbringt ihre Freizeit immer häufiger alleine. Die familiäre Situation ist für sie kaum erträglich, es entwickelt sich eine immense Spannung, derer sie sich mit Hilfe von Selbstverletzungen temporär entledigt. Schliesslich erfolgte ein Suizidversuch.


Ein anderes Beispiel. Der Vater leidet seit vielen Jahren an wiederkehrenden Depressionen. Die Mutter versucht ihn aufzufangen, doch schlittert dadurch ihrerseits in eine Erschöpfung. So sind beide Eltern psychisch belastet und wenig verfügbar für die beiden Töchter. Der Vater neigt dazu, seine Unzufriedenheit mit sich selbst an der älteren Tochter auszulassen. Wiederholt kommt es zu handgreiflichen Konflikten bei geringen Anlässen. Die ältere Tochter zeigt ihre Überforderung, Verzweiflung und Hilflosigkeit mit hyperaktivem Verhalten sowie mit Wutausbrüchen. In der Schule ist sie unkonzentriert und ihre Noten fallen. Kürzlich geriet sie in eine Schlägerei mit einem Schulkollegen. Die Mutter hält sich aus alledem heraus. Sie ist zu erschöpft. So kommt es, dass die jüngere Schwester dadurch immer mehr unter Spannung gerät. Sie braucht ein harmonisches Miteinander, um sich wohl zu fühlen. Um Harmonie zu erlangen, versucht sie stets die ältere Schwester zu schützen. Kommen Konflikte zwischen dem Vater und der älteren Schwester auf, schützt sie die ältere Schwester, stellt sich vor den Vater. Dabei gerät sie zwischen die Fronten. Oder wenn die ältere Schwester Dinge herumliegen lässt, dann verräumt sie diese für sie. Damit will sie verhindern, dass über die liegen gelassenen Dinge ein Streit zwischen Vater und Schwester entsteht. Sie hält diese ewigen Streitereien einfach nicht mehr aus. Die jüngere Tochter wird immer ruhiger, weint viel, ist oft in sich gekehrt. Sie beginnt aus Frust zu essen, als ob sie sich eine Schutzschicht zulegen wollte. Trotz ihrer zehn Jahre nässt sie ab und an wieder ein.


Erklärung der Beispiele


Im ersten Beispiel ist die Tochter eine Mischung zwischen Partnerersatz und Psychologe. Sie wird zum Elternteil für ihre Mutter und bemuttert die Mutter. Diese ist aufgrund eigener, schwerer Belastungen nicht in der Lage, sich um die Bedürfnisse ihrer Kinder adäquat zu kümmern. Sie spricht mit der Tochter über Themen, die letztere nichts angehen, die auf Elternebene oder zumindest auf Erwachsenen-Ebene besprochen werden sollten. Die Tochter gibt sich in diese Rolle herein, nimmt sie an, um die Beziehung zur Mutter zu schützen. So befindet sich die Tochter in einer Rolle, die nicht die ihre sein sollte. Zunehmend wird sie dadurch erdrückt.


Im zweiten Beispiel übernimmt die jüngere Tochter die Rolle der Mutter. Die Mutter sollte ihre Kinder vor den Übergriffen durch den depressiven Vater schützen. Doch aufgrund ihrer eigenen Erschöpfung gelingt ihr das nicht. Eine Depression betrifft selten nur eine Person alleine, meist befinden sich im Leben depressiver Personen weitere Personen, die durch die depressive Erkrankung beeinträchtigt werden. Hier wird die Wut in der Depression des Vaters auf die ältere Tochter transferiert. Die jüngere versucht zu schlichten und gerät dabei in eine ihr nicht zugedachte Rolle, die ihr offensichtlich schadet. In beiden Beispielen handelt es sich um eine Form von Parentifizierung.


Was tun bei Parentifizierung?


Die erste Hürde lautet: Erkennen. Vielen Erwachsenen ist häufig nicht bewusst, dass eine Parentifizierung im Raum steht. Um solch feingestrickte Prozesse zu sehen, braucht es oft ein wenig Abstand. Wie bei einem Mosaik-Bild, das erst erkannt werden kann, wenn es aus einiger Entfernung betrachtet wird. Steht man dem Mosaik-Bild zu nahe, sind es bloss ein paar bunte Steine. Die nötige Distanz gibt das Bild preis. Manchmal ist es hilfreich, eine aussenstehende Person hinzuzuziehen.


Machen Sie sich keine Vorwürfe, wenn Sie nun erkennen, dass es in Ihrer Familie ein Kind parentifiziert ist. Von nichts kommt nichts. Machen Sie sich aber Vorwürfe, wenn Sie nun dafür die Verantwortung nicht übernehmen und die Situation nicht zum Besseren verändern.


Wie gelingt die Beendigung einer Parentifizierung? Lösen Sie das Kind aus der Rolle heraus. Suchen Sie mit ihm aktiv das Gespräch und sprechen Sie mit ihm über Ihre Beobachtungen. Danken Sie dem Kind dafür, dass es diese Rolle eine Weile lang innehatte. Wertschätzen Sie, dass es das für Sie gemacht hat. Lassen Sie nichts aus, seien Sie vollständig. Anerkennen Sie die Leistungen des Kinds. Und dann danken Sie es ab. Sagen Sie ihm, dass dieser Zustand jetzt endet. Im ersten oben beschriebenen Beispiel suchte sich die Mutter eine Psychotherapeutin, mit der sie nun ihre Probleme erläutert. Im zweiten Beispiel erfolgte ein stationärer psychiatrischer Aufenthalt für den Vater. Während diesem überwand er seine Depression und lernte, wie er der Entwicklung einer weiteren depressiven Episode vorbeugen konnte. Die Mutter wurde durch eine sozial-pädagogische Familienhilfe unterstützt, sodass sie ihre Rolle im Familiengefüge wieder leben konnte.


Wenn die Eltern dazu bereit sind, Verantwortung für die Parentifizierung zu übernehmen, neue Lösungen zu suchen und die Kinder aus der ihnen nicht angedachten Rolle zu entlassen, kann es zu einem günstigen Verlauf für die betroffenen Kinder kommen. Dieser Schritt der Entparentifizierung ist oft entscheidend, um das Wohl des Kindes zu fördern.


Wann eine Rollenumkehr okay ist


Mein Sohn versorgt gerne kleinere Schnittverletzungen, die mich ereilt haben. Er holt die Wundsalbe und ein Pflaster und verarztet mich fürsorglich. Oder wenn ich an einer Grippe leide, kocht er mir einen Tee und deckt mich mit einer Wolldecke zu, damit ich schön warm habe. Ist das Parentifizierung? Es ist nicht nicht Parentifizierung, in der Tat handelt es sich um eine Rollenumkehr. Das Kind versorgt die Mutter. Es ist aber nicht unbedingt eine schädliche Rollenumkehr: Ich erachte sein Verhalten als äusserst freundlich, als ein Verhalten, das er hoffentlich beibehält. Sich um andere zu kümmern ist etwas Schönes und für uns Menschen als soziale Geschöpfe auch sehr wichtig. Die Rollenumkehr ist okay, wenn sie zeitlich begrenzt ist (Schnittverletzungen oder Fieber dauern nicht lange) und wenn anschliessend abgedankt wird.


Lesetipps


Liechti, J. & Liechti-Darbellay, M. (2013). Null Bock auf Therapie. Die Bedeutung familiärer Ressourcen in der Therapie mit Jugendlichen. Carl Auer: Heidelberg.


von Sydow, K. & Borst, U. (2018). Systemische Therapie in der Praxis. Beltz: Weinheim.


Autorin


Dr. phil. Sandy Krammer, LL.M.

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